PARTEIWATCH: Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen
Auf den ersten Blick scheinen die CDU und Bündnis90/Grüne die Gewinner*innen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu sein - es lohnt sich jedoch, die Ergebnisse genauer zu betrachten: Sollten die Parteien in den kommenden Jahren gemeinsam regieren, steht ihnen eine große Aufgabe bevor.
Knapp 13 Millionen wahlberechtigte Einwohner*innen konnten ihre Stimme bei der Landtagswahl abgeben, doch nur etwa 7,2 Millionen – also 55,5 % – kamen dem Aufruf nach. Das ist eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Obwohl die CDU weniger Wähler*innen für sich gewinnen konnte als noch 2017, legte sie um 2,7 Prozentpunkte auf 35,7% zu. Die Grünen bauten ihren Stimmenanteil derweil um 11,8% auf 18,2% aus und erzielten somit gleich nach Schleswig Holstein ein weiteres Rekordergebnis bei einer Landtagswahl. Zusammen bilden die beiden Parteien mit insgesamt 105 Parlamentsmandaten eine regierungsfähige Mehrheit.
Portrait des Landtages
195 Abgeordnete werden im Landtag der kommenden Legislaturperiode sitzen. Ungefähr ein Viertel von ihnen errang ihr Mandat über die Zweitstimme. Dabei spielt die parteiinterne Besetzung der Landeslisten eine große Rolle. Die CDU erlangte all ihre Parlamentsplätze über die Erststimme. Die Kandidat*innen der Union setzen sich in 76 der 128 Wahlkreise durch. Weitere 45 Wahlkreise konnte die SPD für sich entscheiden, in sieben gewannen die Grünen. Die restlichen 67 Sitze, ungefähr ein Drittel aller Parlamentssitze, werden über die Landeslisten der Parteien besetzt. Von diesen entfallen elf auf die SPD, 32 auf die Grünen und jeweils 12 auf AfD und FDP.
Im Vergleich zum alten hat sich das neu gewählte Parlament nur leicht verjüngt. Waren die Abgeordneten zu Beginn der 17. Legislaturperiode im Durchschnitt noch 48,6 Jahre alt, liegt der Mittelwert dieses Mal bei 47,5. Zudem ist der neue Landtag um 3,1% weiblicher geworden. Rund jeder dritte Platz (33,8%) wird nun von einer Frau besetzt. Zwischen den Parteien unterscheidet sich der Frauenanteil aber stark. Das hängt vor allem damit zusammen, welche Möglichkeiten Parteien Frauen geben, sich als Direktkandidatinnen oder auf der Landesliste zu positionieren. Hier gibt es unterschiedliche Strukturen.
Frauenanteile in den Fraktionen
Als größte Fraktion hat die CDU einen deutlich unter dem Durchschnitt des Landtages liegenden Frauenanteil von lediglich 21,1%. Die Partei vergab zwar zehn der ersten 20 Listenplätze an Frauen, jedoch nicht paritätisch. Vier von ihnen belegten die Plätze 16-20. Lediglich 24,2% der Direktkandidat*innen waren weiblich. Da die Partei ihre 76 Parlamentssitze über die Erststimme gewann, war die Landesliste für die Besetzung des Parlamentes ohnehin unbedeutend. Mit 60 von 76 Abgeordneten ist die CDU-Fraktion also von Männern dominiert.
Noch weniger Frauen sind in den Fraktionen der FDP und AfD repräsentiert. Sie entsenden jeweils zwölf Abgeordnete. Beide Parteien besetzten Ihre Landeslisten nicht paritätisch. Die ehemalige Regierungspartei FDP entsendet zwei Frauen, die auf die Landeslistenplätze zwei und fünf gewählt worden sind – das entspricht einem Anteil von 16,7%. Unter den Abgeordneten, die für die AfD ins Parlament einziehen, ist lediglich eine Frau. Mit 8,3% ist dies der geringste Frauenanteil aller im Landtag vertretenen Fraktionen.
Anders sieht es bei SPD und Grünen aus: Sie sind die Fraktionen mit den meisten weiblichen Abgeordneten. Beide Parteien folgen sowohl bei der Besetzung der Landesliste als auch bei der Auswahl ihrer Direktkandidat*innen ähnlichen Ansätzen.
Bündnis90/Grüne besetzen 32 der 39 Parlamentssitze mit Kandidat*innen der Landesliste. Die Partei hat sich per Statut auferlegt, mindestens jeden ungeraden Listenplatz mit Kandidatinnen zu besetzen. Zur Landtagswahl Nordrhein-Westfalen gewannen außerdem weitere Frauen die Wahlen auf gerade Landeslistenplätze. Letztendlich sind 19 von 32 Abgeordneten weiblich. Das entspricht 59,4% der über die Landesliste in den Landtag gewählten Kandidat*innen. Da die Grünen bei den Direktkandierenden mit 44% die meisten Kandidatinnen stellen, und vier der sieben Direktmandate von Frauen gewonnen wurden, liegt der Frauenanteil der Fraktion insgesamt bei 59%.
Auch die SPD spricht sich für eine paritätisch besetzte Landesliste aus. Anders als bei den Grünen besetzt die SPD hier jeden geraden Platz mit einer Kandidatin. Durch gewonnene Direktmandate von Vertreter*innen vorderer Listenplätze ziehen letztendlich sechs Frauen und fünf Männer in den Düsseldorfer Landtag ein. Der Anteil weiblicher Abgeordneter, die über die Landesliste gewählt wurden, liegt bei 54,5%. Die Sozialdemokraten gewannen rund 80% ihrer Mandate über die Erststimme, weshalb sie mit 40,6% die nach den Grünen zweitmeisten Direktkandidat*innen haben. 42,2% der in den Landtag gewählten SPD-Direktkandidat*innen sind weiblich. In der Summe besteht die gesamte SPD-Fraktion also zu 42,9% aus weiblichen Abgeordneten.
Strukturen potentieller Wähler*innen
Parteien, die in der Aufstellung ihrer Kandidierenden die Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft abbilden, haben ein größeres Wähler*innenpotenzial [1]. Diversität innerhalb einer Partei führt zu Wählergruppen aus unterschiedlichen Milieus, mit dementsprechend unterschiedlichen Lebensrealitäten. Wie unterschiedlich derzeit die Zielgruppen der verschiedenen Parteien in Sachen Diversität sind, zeigt sich vor allem an der Altersstruktur ihrer Wählerschaft:
Die beiden großen Parteien sind vor allem bei älteren Wähler*innen beliebt. SPD und CDU konnten besonders bei den über 70-Jährigen punkten – die Christdemokraten gewannen in diesem Alterssegment sogar jede zweite Stimme für sich. Bei den 18-24-jährigen Wähler*innen erzielten beide Parteien ihre schwächsten Ergebnisse.
Gegensätzlich verläuft die Kurve bei Grünen und FDP. Sie schnitten besonders stark bei den Jungwähler*innen ab, verloren aber unter den älteren Jahrgängen an Zustimmung. Ein Faktor könnte hier die Altersstruktur der Kandidierenden sein – FDP und Grüne stellten die im Schnitt jüngsten Kandidat*innen. Eine weitere Erklärung liefert möglicherweise das sich ändernde Parteiensystem. Während es mit SPD und CDU in der Vergangenheit zwei große Volksparteien gab, die inhaltlich eng mit ihren Koalitionspartner*innen verbunden waren, wuchsen junge Wähler*innen in einem System auf, in dem bereits mehr Parteien etabliert waren. Auch die langjährige Erfahrung einer CDU-geführten Bundesregierung und die damit einhergehende Monotonie der politischen Landschaft könnte das Wahlverhalten jüngerer Generationen beeinflusst haben. Gleiches gilt für die programmatischen Schwerpunkte von Grünen und FDP, die mit den Kernthemen Klimaschutz und Digitalisierung die Jüngeren als Leidtragende verpasster politischer Entwicklung ansprachen.
Ausblick
Diese Wählerverteilung und -entwicklung sollte den Altparteien Grund zur Sorge bereiten. Während ältere Wähler*innen aus dem Leben scheiden, gewinnen SPD und CDU nur wenig junge Wählerinnen dazu [2]. Bei den Erstwähler*innen schnitten beide Parteien ähnlich wie die FDP ab. Die Grünen konnten hingegen knapp 30% der Erstwähler*innen für sich gewinnen.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass mehr als die Hälfte (54,3%) aller Erstwahlberechtigten nicht zum Wählen mobilisiert werden konnten. Dementsprechend ist noch ein riesiges Potenzial in dieser Altersgruppe vorhanden. Hinzu kommt vor allem mit Blick auf die jüngeren Alterssegmente der steigende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesellschaft. Politik bedeutet vor allem auch Repräsentanz und Sichtbarkeit. Um keine Klientelpolitik zu machen, sollten sich die Parteien dementsprechend auch personell breiter aufstellen. Lediglich 8% der CDU-Direktkandidierenden hatten einen Migrationshintergrund. Die FDP liegt mit 10,5 Prozent nur knapp vor den Christdemokraten. Die Grünen haben mit 21,3% und die SPD mit 20,8% vergleichsweise gute Quoten, liegen aber gemessen an der Bevölkerung auch noch unter dem Durchschnitt. In Nordrhein-Westfalen haben 29,7 der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte. Das elektorale Machtpotenzial von Menschen mit Migrationshintergrund ist riesig und die Parteien wären gut beraten, sich entsprechend repräsentativer aufzustellen, um auch ihre Programme durch neue Perspektiven weiterzuentwickeln und zu bereichern [3].
Die künftigen Koalitionspartner CDU und Grüne unterscheiden sich also nicht nur in der Programmatik. Während die Union eine Partei der älteren Wähler*innen ist, gewinnen die Grünen junge Menschen für sich. Sie sind divers und weiblich – und genau darin liegt ein Teil ihrer Stärke. Um diese Transformation als Partei zu bewerkstelligen, könnte sich die CDU an den Sozialdemokraten orientieren – sie haben als Altpartei richtige Ansätze gefunden, um auch jüngere Generationen von sich zu überzeugen.
Klar ist jedoch auch: Diversität darf kein strategischer Zug zum Wähler*innenfang sein. Ohne Repräsentanz aus den eigenen Reihen werden die Interessen marginalisierter Bevölkerungsgruppen in den Parlamenten nur unzureichend vertreten. Landeslisten, auf denen die Diversität der Bundesrepublik widerspiegelt ist, sind also elementar für eine für alle funktionierende Demokratie.
Mehr Informationen zu unserem Projekt PARTEIWATCH gibt’s hier. Im Zuge von PARTEIWATCH haben mit der Dokumentation der Abstimmungen und Absprachen auf Landesparteitagen für die kommenden Landtagswahlen 2022 angefangen. Wenn Du selbst in einer Partei bist und Dich (gerne auch vertraulich) mit uns über das Thema austauschen möchtest, melde Dich gerne bei Samuel: [email protected]
Referenzen:
[1] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/migranten-und-politik-diw-studie-zeigt-parteipraeferenzen-von-zugewanderten-a-235fcc6d-4101-49bf-93bb-56acc8c23352
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-05/waehlerwanderung-nordrhein-westfalen-landtagswahl
[3] https://citizensforeurope.org/wp-content/uploads/2021_barrierefreie-Publikation-Menschen-mit-Migrationshintergrund-als-wahlentscheidender-Faktor.pdf.pdf